Das Herannahen des demografischen Wandels mitsamt seinen drastischen Folgen ist dem Gesundheitswesen seit jeher bekannt. Fachkräftemangel, Überalterung, ausufernde Kosten: Expertenprognosen prophezeiten schon vor Jahren eine Überlastung des Gesundheitsapparates, die das Potential besitzt, in einem Systemkollaps zu enden. Dennoch blieben politische wie wirtschaftliche Akteure bisweilen untätig. Keine umfassenden Reformen und nur vereinzelte Vorstöße, um der sich anbahnenden Versorgungskrise Herr zu werden, fanden ihren Weg in die Versorgungslandschaft. Die Ergebnisse dieser Untätigkeit sind heute an allen Ecken des Gesundheitswesens zu beobachten und werden sich in den kommenden Jahren dramatisch zuspitzen. Um eine qualitativ hochwertige Versorgung bei gleichzeitiger Wirtschaftlichkeit aufrechterhalten zu können, muss aus der bisherigen Evolution eine radikale Revolution werden.
Produktivitätsdefizit manifestiert sich: höherer Versorgungsbedarf bei weniger Versorgungskapazität
Fehlende Fachkräfte und Probleme bei der Rekrutierung von Mitarbeiter*innen ziehen sich wie ein roter Faden durch die gesamte Gesundheitslandschaft. Dabei fehlt es nicht nur an Ärzt*innen, Psychotherapeut*innen und ausgebildeten Pflegefachkräften in der stationären wie ambulanten Versorgung. Auch die Medizintechnik- und IT-Branche ächzt zunehmend unter den Folgen des demografischen Wandels. Mehr als 1,8 Millionen Stellen im Gesundheitswesen sollen bis 2035 unbesetzt bleiben. Rund 20 Prozent aller niedergelassenen Ärzt*innen begeben sich in diesen Jahren in den Ruhestand, was vor allem in ländlichen Regionen zu einem akuten Versorgungsdefizit beiträgt. Selbst die pharmazeutische Industrie, welche lange Zeit aufgrund ihrer hohen Budgets bei Bewerber*innen besonders beliebt war, ist mittlerweile vom Fachkräftemangel betroffen.
Parallel zum Fachkräftenotstand steigt der Versorgungsbedarf. Allein stationär tätige Ärzt*innen bewältigen circa 19,8 Millionen Behandlungsfälle im Jahr. Diese Zahl ist in den vergangenen zehn Jahren um mehr als 2,5 Millionen gestiegen. Da die Deutschen immer älter werden, ist ein Ende dieser Entwicklung nicht in Sicht: Bis 2030 prognostizieren Forscher*innen einen Anstieg der Lebenserwartung bei Männern in Deutschland von 78 auf fast 82 Jahre und bei Frauen von 83 auf 86 Jahre. Mit ihr steigt auch die Zahl der jährlichen Arztkontakte und der in Anspruch genommenen Gesundheitsleistungen. Innovative Behandlungen und Medikationen gegen vorrangig im Alter auftretende Krebserkrankungen oder Herzkreislaufbeschwerden werden durch erhöhte Fallzahlen und steigende Therapiekosten zunehmend teurer. Das belastet die gesetzlichen Krankenversicherer, welche sich schon heute in einem satten Defizit bewegen. Infolgedessen könnten sich die Beiträge für GKV-Versicherte bis 2030 um bis zu 35 Prozent erhöhen. Gleichzeitig wächst der Druck auf private Krankenversicherer, denn attraktive Beiträge für Privatversicherte bei anhaltender Wirtschaftlichkeit könnten schon ab 2030 schwer bis kaum realisierbar werden.
Von der Evolution zur Revolution: Mehr Mut zum radikalen Umdenken
Noch heute versucht die Gesundheitsbranche sich altgedienter Musterlösungen zu bedienen, um den skizzierten demografischen Herausforderungen zu trotzen. Erhöhte Ressourcenaufwände für die Gewinnung von Fachkräften bei gleichzeitigen Kosten- und Beitragserhöhungen für Nutzer*innen und Patient*innen bieten den herannahenden Zerfallserscheinungen jedoch nur kurzfristig Einhalt und erhöhen langfristig den Schaden an der eigenen Wirtschaftlichkeit. Um aus der Evolution eine erfolgversprechende Revolution werden zu lassen, braucht es disruptive Ansätze an breiter Front, welche sich nicht allein auf den Personalbereich begrenzen lassen dürfen: Demografischer Wandel ist kein HR-Problem – es ist ein Geschäftsmodell-Problem!
Neue Berufsbilder wie die bereits im Koalitionsvertrag erwähnte Community Health Nurse oder neu geschaffene Versorgungsangebote wie die Modelle von Gesundheitskiosken und Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) sind erste Ideen, das herannahende Versorgungsdefizit durch effizientere Strukturen abzumildern. Sie bieten jedoch nur eine in Ansätzen disruptive Lösung für eine zunehmend akute Problemlage. Doch was wir noch viel mehr brauchen, ist der konsequente Einsatz von Technologie als Ersatz für menschliche Ressource – das wogegen sich bis heute viele Akteure wehren.
Dabei ist es notwendig, jetzt die rechtlichen Barrieren aufzubrechen, die einer digitalen Disruption der Branche bis heute im Weg stehen und altgediente Hoheitsrechte schützen, welche wir uns schon in wenigen Jahren nicht mehr leisten können. Dabei müssen drei Bottlenecks als plakative Beispiele gelöst werden:
- Diagnose stellen: hierzu brauchen wir heute noch einen Arzt – dabei geht das auch digital
- Therapieentscheidung treffen: hierzu brauchen wir heute noch einen Arzt – doch auch das geht digital
- Abgabe von Medikamenten: hierzu brauchen wir einen Apotheker und eine PTA – doch auch diese Leistung können Plattformen und Automaten darstellen Therapieentscheidung treffen: hierzu brauchen wir heute noch einen Arzt – doch auch das geht digital
Und so gibt es viele weitere berufsrechtliche Einschränkungen, die unser Bild von guter Medizin prägen, doch gleichzeitig verhindern, dass wir neu denken und exzellente digitale Versorgung entwickeln. Dabei könnten wir schon heute gänzlich virtuelle Versorgungspfade in der Regelversorgung etablieren. Wir brauchen eine vollautomatisierte Medizin, die Engpässe und Fachkräftemangel nachhaltig auffangen kann.
Nur wenn Unternehmen und Verwaltungen in die Lage versetzt werden, mittels digitaler Tools personelle Arbeitsaufwände zu reduzieren und zu ersetzen, werden sich Fachkräfte zukünftig auf das wichtigste Element der Gesundheitsversorgung konzentrieren können: Die Patient*innen, die von einer menschlichen Interaktion wirklich profitieren.
Der Schmerz einzelner Akteure kann sich lohnen
Das Gesundheitswesen in seiner heutigen Struktur wird die Folgen des demografischen Wandels weder aufhalten noch aushalten können. Eine umfassende und flächendeckende Digitaloffensive, welche einen strukturellen Umbau der Branche und seiner einzelnen Akteure nach sich zieht, ist unumgänglich, um eine zukunftsfähige Gesundheitsversorgung zu gewährleisten. Hierfür braucht es schon heute den Mut zu handeln, auch wenn das Loslassen etablierter Prozesse für einige Akteure zunächst schmerzhaft erscheinen mag. Es lohnt sich, den demografischen Wandel aktiv mitzugestalten, anstatt ihn bloß zu ertragen und die Chancen eines neu entstehenden Gesundheitssystems zu ergreifen, dass allen Akteuren die Möglichkeit bietet, sich zu beweisen.