Seit dem 1. Januar 2021 steht die elektronische Patientenakte (ePA) allen gesetzlich Versicherten kostenlos über die eigene Krankenkasse zur Verfügung. Über ein Jahr, in dem die neue digitale Gesundheitsplattform zwar stetig weiterentwickelt wurde, aber kaum Nutzer*innen hinzugewinnen konnte. Den wenigsten der rund 73 Mio. gesetzlich Versicherten scheint die Existenz der ePA überhaupt bewusst zu sein, was sich auch in den aktuellen Nutzerzahlen widerspiegelt: Nach Angaben der gematik verwenden bislang lediglich eine halbe Millionen Versicherte das digitale Tool für die Verwaltung ihrer Gesundheitsdaten. Von Medien wie Gesundheitsexperten wird die elektronische Patientenakte deshalb schon seit Längerem als “Ladenhüter” der digitalen Gesundheitsversorgung betitelt. Diese Diagnose wirft gleich mehrere Fragen auf:
- Woher rührt die geringe Nutzeraktivität der ePA?
- Welche Vorteile kann uns die digitale Akte aktuell bieten?
- Was braucht die ePA, um zum Dauerbrenner der Gesundheitsversorgung zu werden?
Stagnierende Nutzung: Was fehlt der ePA?
Begrenzte Funktionalitäten
Als die wohl wichtigste und offensichtlichste Ursache für die geringe Nutzung der ePA können ihre weiterhin begrenzten Funktionalitäten genannt werden. Trotz erster, am 01. Januar 2022 integrierter Add-ons befindet sich die digitale Akte weiterhin im Aufbau. Zurzeit können Patient*innen in ihrer ePA lediglich Daten aus bereits vorhandenen Anwendungen und Dokumentationen, wie zum Beispiel Notfalldaten, Medikationsplänen, Arztbriefen, Befunden oder Röntgenbildern speichern (Ausbaustufe: ePA 1.1). Auch der Impfausweis, der Mutterpass, das Untersuchungsheft für Kinder und das Zahnbonusheft können seit Beginn des Jahres 2022 hinterlegt werden (Ausbaustufe: PA 2.0, 2022). Spannend dürfte es für viele Versicherte und Ärzt*innen jedoch erst mit der Einbindung von neuen Datenquellen (bspw. DiGA-Daten ab 2023) und der Möglichkeit zur Datenfreigabe an das deutsche Forschungsdatenzentrum (FDZ) werden (Ausbaustufe: ePA 2.5, 2023).
Fehlende Aufklärungsarbeit
Einen weiteren Grund für die geringe Nutzung der digitalen Akte stellt die nahezu fehlende öffentliche Aufmerksamkeit dar, die ihr bislang zu Teil wurde. Eine Ende 2020 durchgeführte repräsentative Umfrage des Marktforschungsinstitutes Consumerfieldwork zeigt: Auch kurz vor dem offiziellen Launch der ePA, hatten rund 4 von 10 Versicherte noch nie etwas von der elektronischen Patientenakte gehört. Lediglich 9,4 Prozent der Befragten – und damit nur jeder zehnte gesetzlich Versicherte – hatten zu diesem Zeitpunkt die Funktionsweise der Akte verstanden und diese mit einem tatsächlichen Mehrwert für ihre Gesundheitsversorgung verbunden. In Anbetracht der aktuellen Nutzerzahlen, scheint sich diese Kommunikationslücke zwischen Verbänden, Krankenkassen, Ärzt*innen und ihren Versicherten wie Patient*innen bis heute nicht geschlossen zu haben. Fehlende Aufklärungsarbeit, die sich unweigerlich auf die flächendeckende Integration der elektronischen Patientenakte auswirkt.
Der Schüssel zur Patientenrelevanz: Was braucht die ePA?
Die ePA ist angesichts ihres aktuellen Entwicklungsstadiums also noch nicht das zentrale Element der Gesundheitsversorgung, das sie eines Tages sein soll. Doch gerade deshalb ist es sinnvoll der Frage nachzugehen, was die ePA in Zukunft sein kann und welche Use Cases sich rund um diesen Knotenpunkt der Patientenversorgung entwickeln könnten.
Innovative Mehrwertfunktionen
Auf der Suche nach ePA-Funktionen, die einen Mehrwert für ihre potentiellen Nutzer*innen schaffen, lohnt sich ein Blick auf die Zusatzfunktionen, die einige Krankenkassen ihren Versicherten bereits heute zur Verfügung stellen. So bietet die Barmer ihren Kund*innen in ihrer elektronischen Patientenakte “eCare” die Funktion „Mediplaner“, welche die Einnahme von Medikamenten managen und per Erinnerungsfunktion planen soll. Außerdem bietet die eCare die Möglichkeit, eine Vielzahl an Gesundheitsdokumenten digital zu führen, unter anderem den Impf-, Notfall-, Allergie-, Brillen- und Röntgenpass.
Auch die TK hat ihre Version der elektronischen Patientenakte, TK-Safe, um interessante Features erweitert, welche die Relevanz der Anwendung für ihre Nutzer*innen deutlich steigern dürften. So können sich TK-Versicherte in ihrer ePA anzeigen lassen, welche Impfungen oder Vorsorgeuntersuchungen als nächstes durchgeführt werden sollten. Sie können sich zudem eine stets aktualisierte, chronologische Übersicht über ihre Arbeitsunfähigkeitszeiten, ärztlichen Behandlungen, Impfungen, Krankenhausaufenthalte, Medikamente und Vorsorgeleistungen anzeigen lassen sowie ein Ärzteverzeichnis aufrufen, in dem eine Übersicht aller ihrer behandelnden Ärzt*innen, mit allen erforderlichen Kontaktdaten hinterlegt ist.
ePA-Daten als Grundlage für Forschung und Versorgung
Auch die Betrachtung der elektronischen Patientenakte als zukünftige Datenquelle eröffnet interessante Perspektiven und ist sowohl von Seiten der Nutzer*innen als auch aus Sicht von Forschenden, der Industrie und aus dem Blickwinkel von Leistungserbringenden spannend. Die in der ePA gesammelten Daten können dabei zum einen eine entscheidende Rolle im Zuge der Primärnutzung, d.h. in Form einer verbesserten Versorgung der Patient*innen, einnehmen. Zum anderen könnte sie zukünftig vermehrt der medizinischen Forschung zugutekommen (=Sekundärnutzung), denn pseudonymisierte Daten können über die ePA zukünftig dem Forschungsdatenzentrum zur Verfügung gestellt werden. Die Patient*innen sind durch ihre eigenen ePA-Daten im Besitz eines wertvollen Guts und können Autonomie über dieses gewinnen. Die Möglichkeit der (erweiterten) Datenfreigabe durch die Patient*innen kann somit zu einem erheblichen Anreiz für die vermehrte Nutzung der elektronischen Patientenakte werden.
Perspektivisch wäre eine Bandbreite an Möglichkeiten und Anwendungsszenarien – mit oder auch ohne Gesundheitsbezug – vorstellbar: Sei es, um die eigene Behandlung zu verbessern, Geld zu verdienen (siehe Use Case #1) oder vielleicht sogar die Partner*innensuche zu erleichtern (siehe Use Case #2).
Zielgerichtete Aufklärung und Kommunikation
Um die ePA an die Versicherten und Patient*innen zu bringen, braucht es zielgerichtete Aufklärungsarbeit. Dabei sind nicht nur Krankenkassen, sondern auch Ärzt*innen, Krankenhäuser, ambulante Versorger*innen sowie die Vereine und Verbände der Gesundheitslandschaft gefragt. Gesetzliche Krankenkassen zeigen schon heute, was Informationskampagnen zur elektronischen Patientenakte bewirken können. So bietet beispielsweise die TK online wie offline einen ganzen Fundus an Informationsmaterial sowie Interviews mit einzelnen ePA-Nutzer*innen zur Registrierung, Nutzung und Weiterentwicklung der eigenen ePA TK-Safe. Ähnlich umfangreiches Material findet sich auch bei einer Vielzahl der übrigen gesetzlichen Krankenversicherer. Um die elektronische Patientenakte zum Dauerbrenner werden zu lassen, wird jedoch auch das Engagement von anderen Akteuren unseres Gesundheitswesens gefordert sein.
Gesagt, getan! Als Fördermitglied haben wir deshalb pünktlich zur Hashtag Gesundheit Mitgliederversammlung am 22. April 2022 einen eigenen Workshop zum Thema ePA auf die Beine gestellt. Im Rahmen der Veranstaltung diskutierten wir gemeinsam mit den teilnehmenden Vereinsmitgliedern Use Cases für die elektronische Patientenakte der Zukunft, um einen gemeinsamen Beitrag zur Aufklärung von Patient*innen, Versicherten und jungen Talenten im Gesundheitswesen zu leisten. Gleichzeit nutzen wir die kontroversen Use Cases, um auch Datenschutzbedenken und ethische Fragestellungen in Hinblick auf eine ePA-Nutzung der Zukunft zu evaluieren.